Abt. Beschäftigung: Zeichen setzen

10.10.2013 23:08


Es war einmal ein Land, in dem die Leute jahrein, jahraus hart arbeiteten, am Sonntag in die Kirche gingen zum Lobpreis des Herrn und sich ansonsten fortpflanzten. Bis eines Nachts dunkle Gewitterwolken über das Land zogen, die mit einem Mal aufrissen, so daß gleißendes Mitternachtslicht die Schlafzimmer erhellte, als sei die Atombombe im Vorgarten explodiert.

Zu Tode erschreckt fuhren die Leute in ihren Betten hoch und fingen ängstlich an zu schreien. Was war das für ein unheimliches Licht!? Aber sie ängstigten sich nicht lange, denn eine alles übertönende, sonore Männerstimme erklang aus dem Lichtloch in den Wolken und beruhigte sie: "Alle mal herhören! Ich bin´s, der Herr. Mit Wirkung ab sofort gilt eine Grundgesetzänderung wie folgt: Paragraph 13b Abs.2 - seid fruchtbar und mehret euch - wird gestrichen und ersetzt durch die Worte - setzt Zeichen und streckt dabei euere Zeichefinger in die Luft ."

Kaum hatten die Leute mitten in der Nacht die Worte des Herrn vernommen, zog sich die Wolkendecke wieder zusammen, das unheimliche Licht erlosch und die gewohnte Umnachtung kehrte zurück. Frauen schubsten Männer, die erigierte Penisse hatten, aus den Betten, streckten dabei ihre Zeichefinger in die Luft und schrien: "Hiermit setze ich ein Zeichen gegen die triebgesteuerten Patriarchen, die sich grundgesetzwidrig fortpflanzen wollen! Nie wieder Schwangerschaft!"

Aber das war noch nicht das Schlimmste. Männer nämlich, die keine erigierten Penisse hatten, wurden gleich ganz aus dem Haus geworfen. Die waren auch die ersten, die sich ungläubig die Augen rieben, als im Morgengrauen die ersten Leute auf den Straßen zu sehen waren. Hasteten sie denn nicht mehr zur Arbeit? Und was sollte das chaotische Geplärre? Alle liefen sie wild durcheinander wie die Hühner auf LSD und riefen "Laßt uns ein Zeichen setzen!" Die Verwirrung nahm zu, als einer rief:"Was für ein Zeichen sollen wir setzen? Und wie soll es aussehen? Soll es aus Holz sein oder aus Plastik?" Bis zum Nachmittag wußte niemand genau, welches Zeichen man setzen - und wie es aussehen sollte.

Gegen achtzehn Uhr schrie dann ein alter Mann:"Wir sind eine Demokratie! Wir haben die Meinungsfreiheit! Jeder darf jedes Zeichen setzen, ganz, wie er will!" Da hielten alle inne und staunten über die Klugheit des alten Mannes. Die Aufregung legte sich, die Leute machten Feierabend und gingen nach Hause. Als sie daheim den Fernseher einschalteten, konnten sie sehen, daß sich das Zeichensetzen auch bei der Regierung schon durchgesetzt hatte. Die Bundeskanzlerin sagte, daß man ein Zeichen setzen müsse. Die Sozialministerin erklärte, sie hätte mit ihrer neuen Frisur ein Zeichen setzen wollen. Und der Grüßaugust der Republik setzte ein Zeichen, indem er sagte, daß die Worte des Herrn ein Zeichen gewesen seien, daß man Zeichen setzen solle, worüber alle einmal gehörig nachdenken sollten, um auch damit ein Zeichen zu setzen.
Zeichensetzen wurde schnell beliebt.

Fortan bestand die ganze Politik und überhaupt das ganze Leben im Zeichensetzen. Die Leute setzten Zeichen, daß die Heide wackelte. Zeichen gegen die Atomkraft setzten sie, Zeichen für Toleranz, Zeichen für Menschlichkeit, Zeichen gegen die Geschwindigkeit, Zeichen für und gegen alles. Bald kannte sich keiner mehr aus vor lauter Zeichen, die gesetzt worden waren.

"Ich setze ein Zeichen!" - "Na und? Da setze ich dieses Zeichen dagegen!" - "Dann setze ich eben ein anderes Zeichen." - "Wenn du ein anderes Zeichen setzt, dann setze ich aber ein ganz anderes!" - "Ok, du hast gewonnen."

Der Herr im Himmel aber grinste sich eins und dachte: "Den Affenstall habe ich ganz schön verarscht. Wenigstens hält sie die Zeichensetzerei davon ab, tatsächlich irgendwas in den Sand zu setzen oder irgendwas anderes auf die Reihe zu bekommen. Sollen sie Zeichen setzen bis sie sterben. Da sind sie beschäftigt, es ist nicht sonderlich gefährlich, kostet nichts, sie fühlen sich gut dabei und altern so bis zu dem Tag, an dem es sich mit der Zeichensetzerei sowieso hat. Wenn´s dann soweit ist, kriegen sie Grabsteine, wo draufsteht, was los ist: R.I.P. - Ruhe im Puff."

Und wenn sie nicht gestorben sind, dann setzen sie ihre Zeichen noch heute.