Striptease

03.07.2014 17:39

Die Zeitschrift FOCUS meldete im Jahr 2013, dass der Umsatz der deutschen Kosmetikindustrie dank der Zuwächse bei Lippenstift und Nagellack im Vergleich zum Vorjahr um 3,9 Prozent auf fast zwei Milliarden Euro angewachsen sei. Das war neuer Rekord. Nehmen wir jetzt noch die Umsätze hinzu, die alljährlich im Schuhhandel anfallen für Damenschuhe mit einer Absatzhöhe über sechs Zentimeter, für Umsätze mit Lingerie und Brustvergrößerungen, Fettabsaugungen, Lippenaufspritzungen und Pobackenlifting, dann dürften die zehn Milliarden wohl leicht geknackt werden. Viel Geld also dafür, dass Frauen schön aussehen. 

Wenn man so will, dann könnte man das auch begreifen als ein Indiz dafür, dass Frauen im allgemeinen ganz genau wissen, wie es um ihre Attraktivität bestellt wäre, wenn sie sich alleine auf das verlassen müssten, was sie den lieben langen Tag unverkleidet und ungeschminkt zu erzählen hätten. Schlecht nämlich. Keiner von uns kann sich einen Mann vorstellen, der angesichts einer ungeschminkten Frau im Schlabberlook und in Birkenstocksandalen so in Verzückung gerät, dass er wie im Delirium daher stammelt: "Die überwältigende Schönheit deiner Rede macht mich wünschen, zehn Kinder mit dir zu zeugen." Die Gedankenschminke für Frauen ist halt noch nicht erfunden. Wäre es anders, dann wäre sie ein Megaseller. Da bin ich mir sicher.

Es scheint mir also ein nachvollziehbarer Gedanke zu sein, dass Frauen erst mit der massenhaften Verbreitung von Schmink- und Illusionsartikeln jedweder Art zum schöneren Geschlecht avanciert sind. In der Antike war das jedenfalls noch nicht so eindeutig, wie man an den vielen Standbildern nackter Jünglinge sehen kann, die heute noch erhalten sind. Selbst Michelangelos berühmteste, viel später entstandene Skulptur heißt David und nicht Schantalle. Und nochmal später zeigt uns Rodins berühmtestes Standbild den Denker und nicht die Denkerin. Hätte sich Rodin unter einer Denkerin etwas vorstellen können, dann hätte er vielleicht eine aus dem Stein herausgemeißelt. Jedenfalls hätten die Chancen fifty-fifty gestanden und wer weiß, was dabei herausgekommen wäre. Womöglich so etwas wie Luise Pusch oder Alice Schwarzer nackend auf der Kloschüssel. Jede Wette, dass man Rodin Hammer und Meißel weggenommen - und ihm verboten hätte, sich jemals wieder einem Marmorblock zu nähern. Das wäre es dann gewesen mit seinem Ruhm. Und die europäische Kulturgeschichte wäre um einen Bildhauer ärmer.

Aber lassen wir derlei Spekulationen. Untersuchen wir lieber einmal so eine Schantalle und zerlegen wir sie in ihre Einzelteile. Zuerst ziehen wir ihr die High-Heels aus, dann entfernen wir das künstliche Haarteil, nehmen die Wimpernextensions ab und säubern sie mit Pinselreiniger von der ganzen Farbe in ihrem Gesicht. Als nächstes schaben wir mit einem Spachtel den Kitt runter, mit dem sie ihre Pickelchen abgedeckt hat. Wenn wir das haben, dann ziehen wir sie aus. Zuletzt nehmen wir den Push-Up BH und das Tangahöschen weg. Sie ist nun völlig nackt und naturbelassen. Sie kommt uns plötzlich seltsam kurzbeinig, breithüftig und schmalschultrig vor. Jetzt kleben wir sie in den deutschen Anatomieatlas neben den nackten Siegfried, treten einen halben Meter zurück und stellen uns mit dem Vorsatz, uns keinesfalls selbst in die Tasche zu lügen, die Frage, welche Abbildung die ansprechendere ist. Siegfried gewinnt. Nun fragen wir Siegfried, ob er sich mit Schantalle zusammen fortpflanzen möchte und notieren seine Antwort. Siegfried möchte nicht. Dann fragen wir Schantalle. Sie möchte auch nicht.

Nun zur Gegenprobe. Wir versetzen Schantalle wieder in den Ausgangszustand zurück, was ungefähr zwei Stunden dauert. Dann nehmen wir Siegfried aus dem Anatomieatlas heraus, streifen ihm Unterhosen, Socken, und ein Hemd über, ziehen ihm noch Hosen an, binden ihm das Krawättchen um den Hals, stecken ihn in ein Jackett, ziehen ihm schwarze Halbschuhe über die Füße, wischen ihm mit einem feuchten Lappen einmal über das Gesicht und fahren ihm einmal kurz mit dem Kamm durchs Haar. Das dauert fünf Minuten. Dann legen wir die beiden wieder nebeneinander in den Anatomieatlas zurück, treten einen halben Meter zurück und fragen uns erneut, welche die ansprechendere Abbildung ist. Schantalle gewinnt. Nun fragen wir Siegfried erneut, ob er sich mit Schantalle zusammen fortpflanzen möchte und notieren seine Antwort. Er möchte. Alsdann fragen wir Schantalle, ob sie sich mit Siegfried zusammen fortpflanzen möchte und notieren ihre Antwort ebenfalls. Sie möchte immer noch nicht, es sei denn, Siegfried hätte einen Haufen Geld. 

Wir verallgemeinern: Frauen betreiben optisches Tuning, damit Männer Sex mit ihnen haben wollen, weil Frauen wiederum für Sex das bekommen, was ihnen wichtiger ist als Sex.

Unser Wissensdurst ist aber noch nicht gestillt. Wir würden nämlich gerne noch herausfinden, ob für Schantalle ein Zusammenhang besteht zwischen Siegfried und Siegfrieds Geld, oder ob für sie ein eher allgemeinerer Zusammenhang besteht zwischen Sex und Geld. Deshalb nehmen wir uns eine Illustrierte, schneiden das Bild eines sehr gutaussehenden jungen Mannes heraus, nennen ihn Francois und zeigen Schantalle das Bild. Wir fragen sie, ob sie sich mit Francois zusammen fortpflanzen möchte, obwohl Francois seinen Geldbeutel verloren hat und notieren erneut ihre Antwort. Sie würde wollen, wenn sie Siegfrieds Geld bekommt.

Nun wollen wir es ganz genau wissen. Wir zeigen Schantalle neunundzwanzig Bilder von allen möglichen Männern ohne Geld und eines von der Regierung, auf dem jedes Regierungsmitglied ein riesiges Bündel von 500-Euro-Scheinen lächelnd in die Kamera hält. Insgesamt also dreißig Bilder. Dann fragen wir Schantalle, ob sie sich mit jedem der Männer fortpflanzen will und notieren ihre Antwort. Sie würde wollen, wenn sie von der Regierung das ganze Geld bekommt. Und das von Siegfried dazu.

Unsere Neugier steigt ins Unermessliche. Da wir kein Bild haben, auf dem alle deutschen Männer zu sehen sind und auch keines haben, auf dem das ganze Geld der Regierung abgebildet wäre, zeigen wir Schantalle nun eine Statistik mit Balken, Kuchendiagramm und Zahlen. Alle deutschen Männer nach Altersgruppen gegliedert, ihr Geld und das ganze Geld der Regierung. Es passiert das, was wir geahnt haben. Schantalle fängt wie verrückt zu zappeln an, es brennen ihr alle Sicherungen durch, wunderkerzengleich knistert ein kurzer, heftiger Funkenregen, sie qualmt aus den Ohren und bricht wegen zerebraler Überlastung leblos zusammen. Da hilft kein Lötkolben mehr. Weiß der Geier, was passiert wäre, wenn wir ein Bild gehabt hätten. Schade, dass wir keine Geier sind. Wir werden wohl eine neue Schantalle brauchen.

Nachdem wir kurz traurig darüber gewesen sind, dass Schantalle unsere wissenschaftlichen Forschungen nicht überlebt hat, versuchen wir dennoch, unsere Forschungsergebnisse durch die gelebte Wirklichkeit verifizieren zu lassen. Zu diesem Zweck interviewen wir Frauen, die sich, anders als Schantalle selig, noch nie in aufreizende Fummel gezwängt haben und auch sonst erstaunlich farblos ihr Dasein fristen. Nacheinander besuchen wir Bärbel Höhn, Jutta Ditfurth, Luise Pusch, Antje Vollmer und Renate Künast, um ihnen listig zuerst die Zustimmung zu unserer heuchlerisch vorgebrachten Auffassung abzuluchsen, das Private sei politisch, und sie hernach schamlos zu ihrem Sexleben zu befragen. Schließlich können sie nicht gut erst unserer Behauptung zustimmen und hinterher die Klemmschwestern geben. Die Ergebnisse sind ernüchternd. Ohne Geld bekommen wir keine Interviews. Wir können uns dennoch ziemlich sicher sein, dass die genannten Schreckschrauben kein Sexleben haben, für das ein Mann sich interessieren würde. Das finden wir tröstlich, weil damit auch klar ist, dass sie sich nicht fortpflanzen. Außerdem sind wir sowieso nicht davon ausgegangen, dass in ihren Fällen mit künstlichen Haarteilen und Schminke noch etwas zu retten gewesen wäre. Jedenfalls nicht, so lange sie nicht geknebelt gewesen wären.

Wer bezahlt aber nun die zehn Milliarden Euro, die in Deutschland alljährlich für die Frauenverschönerung ausgegeben werden? Der Anteil der Erwerbstätigen ist unter den Männern viel höher als bei den Frauen. Achtzig Prozent aller Teilzeitjobs sind in den Händen von Frauen. Seltsamerweise sind aber auch achtzig Prozent der Verkaufsflächen in den deutschen Konsumtempeln auf die Bedürfnisse von Frauen hin gestaltet. Das sind starke Indizien dafür, dass Männer erst das Geld aufbringen, welches Frauen für ihr optisches Tuning verbraten, damit sie danach auch noch die Kohle latzen dürfen, die deswegen fällig wird, weil sie nach dem Tuning Lust auf Frauen haben. Anders ausgedrückt: Männer zahlen für die Lizenz zum Bezahlen im Interesse des Fortbestandes der Nation. Das Ganze nennt sich Gleichberechtigung. 
Man fragt sich, ob Rodin wirklich einen Denker aus dem Stein gemeißelt hat. Nicht deswegen, weil der Denker ein Zahlmeister par excellence ist, sondern weil der Zahlmeister glaubt, dass die Frauen noch längst nicht mit ihm gleichberechtigt seien und dass da noch viel zu tun wäre, um sie endlich auf Augenhöhe zu bringen. Dabei wissen Frauen längst, wie sie Augenhöhe herstellen. Sie kaufen sich ein Paar High-Heels.